Gesamtaufwandsschätzungen für große Projekte im agilen Projektvorgehen sind in der Regel ungenau und sorgen nur für Unstimmigkeiten und Korpfschmerzen bei allen Beteiligten. Also eigentlich ein unlösbares Problem.
Lösungvorschlag: Annäherung finden durch gemeinsame Schätzung mit den Kunden / Steakholdern (Agile Budget)
Feature & Arbeitspakete schneiden
Experten & Kunde / Steakholder schätzen gemeinsam in Storypoints / T-Shirt Sizes
Gemeinsamer PT-Schlüssel wird bestimmt ( mit Min und Max Value pro Storypoint)
Aufsummieren
Relative und Absolute Positionen zufügen (Kommunikation: 20%, PM / PO: 15%, Workshops: 6PT, …)
Regelmäßige Wiederholung zur Projektlaufzeit
Inhalt
Ausführung
Im Rahmen der Agenturarbeit kommt man immer wieder in die gleiche Situation: Um den Pitch-Termin (unmittelbar vorher oder nachher) soll jemand – am besten noch als Einzelperson – auf Basis eines vier bis acht Seiten umfassenden Briefing Dokuments eine Gesamtaufwandsschätzung für ein Projekt, meist in einem Umfang von > 400 PT abgeben.
In den seltensten Fällen ist die daraus resultierende Zahl auch nur ansatzweise belastbar. Die beschriebene Situation ist ein klassischer Lose-Lose-Fall. Mindestens eines der folgenden Szenarien (oft eher drei bis fünf) tritt in der Regel ein:
Kunde ist unzufrieden, da Projekt zu teuer wird (nicht transparenter Risiko-Aufschlag)
Umsetzungsteam ist unzufrieden, da Schätzung aufgrund von Unklarheiten, Unwissenheit oder äußeren Umständen viel zu niedrig war
Eskalation am Ende des Projekts wegen Change-Request-Schlacht und damit unzufriedener Kunde und unzufriedenes Projektmanagement
Eskalation am Ende des Projekts (oder danach) da Qualität zunehmend abnimmt (Zeitdruck / Margen-Druck)
Arbeiten auf Kulanz / Garantie nach Abnahme
Ursprungsschätzung ist zu hoch (Risiko-Aufschlag) und wird deswegen gedrückt („Man muss ja konkurrenzfähig bleiben“ – „Wir betrachten das als initiale Investition“ – …), Team wird aber dann nur am gekürzten Budget gemessen und nicht an der ursprünglichen Schätzung
Dieser Problematik kann man mit einer etwas „außergewöhnlicheren“ Methodik entgegen wirken:
Die Initial- (Glaskugel- / Daumenpeilungs-) Schätzung gemeinsam mit dem Kunden.
Vorgehen zum gemeinsamen Schätzen mit dem Kunden
Für ein gemeinsames Schätzen mit dem Kunden geht man wie folgt vor:
1. Feature Pakete schneiden
Zunächst sollte der Scope mit dem Kunden abgesteckt werden. Hier eignen sich im besten Fall zunächst Workshop-Formate wie Blitz-Planning oder UserStory-Mapping. Am besten beides. (Zuerst Blitz-Planning, anschließend UserStory-Mapping auf High-Level). Die folgenden Fach-Bereiche sollten in jedem Fall an den Workshops teilnehmen (die Liste sollte um weitere Beteiligte bei Bedarf ergänzt werden):
Kunde / Fachlicher Verantwortlicher
Entwicklung
Design
Konzeption / UX
Betrieb
2. Pakete von Expertengruppe gemeinsam mit Kunden schätzen
Die daraus resultierenden Pakete sollten von einer Expertengruppe zusammen mit den Kunden relativ geschätzt werden (Storypoints / T-Shirt-Sizes). Als Format hat sich hier „Planning Poker“ bewährt.
Die relative Größe hat hier den Vorteil, dass sich in der Regel schnell auf eine Größe geeinigt werden kann. Außerdem kann – meiner Erfahrung nach – zudem das Bauchgefühl der Experten (was in den meisten Fällen ein sehr guter Indikator ist) ausreichend berücksichtigt werden
3. Schlüssel gemeinsam bestimmen
Wenn alle Schätzungen abgeschlossen sind – erst dann – wird gemeinsam mit allen an der Schätzung Beteiligten ein Schlüssel bestimmt. Dieser Schlüssel sollte eine eine Range (Min-Max-Werte) umfassen, mit der alle einverstanden sind.
4. Gesamtaufwand (Range) aufsummieren
Die Tabelle um eine weitere Zeile ergänzen und entsprechend die jeweilige Summe des Min- und Max-Aufwands bilden.
5. Relative und absolute Kosten hinzuziehen
Auf Basis der obigen Schätzung weitere Zeilen hinzufügen und jeweils Prozente (bezogen auf den geschätzen Min-Max-Aufwand) für
Management / Controlling (15% – Im Agenturbereich meist leider nötig)
Kommunikation (20-25% – je nach individueller Erfahrung)
Testing (10% – für manuelle Tests)
Ggf. weitere Beratung (10-15%, je nach Projekt)
Ggf. Risikoaufschlag (20-30%) z.B. bei unklarem Scope oder gedeckeltem Budget.
Sonstige einmalige Kosten aufschlagen so z.B. Workshops mit entsprechend vielen Personen, Phase 0, RE, Projektsetup, Launch-Termin, etc..
Wichtig : Auch hier alles mit dem Kunden gemeinsam machen bzw. Schätzmethodik voll transparent machen.
6. Wiederholung zur Projektlaufzeit
Muss oder will man regelmäßig „On Budget“ bzw. „On Value“ aka. Reporting / Controlling betreiben, so kann man das oben beschriebene Vorgehen regelmäßig (z.B. alle 3 Monate, alle 4 Sprints, etc.) mit den noch verbleibenden Arbeitspaketen (erst mal alte, anschließend noch neu hinzugekommene, vorher nicht bedachte Pakete) betreiben und mit den bisher geleisteten Projektaufwänden abgleichen.
Diese Schätzung wird zunehmend genauer da
Projekt Scope mit fortschreitendem Projekt klarer
Das Gefühl für die Arbeit in dem speziellen Projekt bzw. speziellen Kontext besser
Der Restaufwand (hoffentlich!) geringer
wird. Außerdem können die relativen Werte auf Basis der bisherigen Zusammenarbeit individuell bestimmt werden.
Beispiel-Schätzung
Schritte 1 und 2 – Pakete und Storypointschätzung
Hinweis: Achtung: Das sind nur Dummy-Werte!
Schritt 3 + 4 – Schlüssel bestimmen und Summieren
Gemeinsam bestimmter Schlüssel:
Ergebnis (mit Summe)
Schritt 5 – Relative und Absolute Sonderkosten aufschlagen
Gesamtergbnis wäre hier also ein Aufwand zwischen 157 und 203 Personentagen. Nimmt man den Schnitt kommt man also auf 180 PT ± 23 PT
Fazit / Ergebnis / Warum sollte man das alles tun?
Mit dieser Methodik kann man mit vielen Unklarheiten in einem Projekt eine in meinen Augen valide Glaskugelschätzung abgeben. Der riesige Vorteil bzw. das „revolutionäre“ ist, dass der Kunde mit schätzt. Dies hat gleich mehrere Vorteile
Sowohl Agentur als auch Kunde fühlen sich gemeinsam für das Produkt verantwortlich
Durch die volle Transparenz der Methodik wird für beide Seiten Vertrauen geschaffen
Dadurch dass beide Parteien von Beginn an miteinander reden wird schnell eine gemeinsame Produktvision geschaffen.
Lücken im Briefing können in der direkten Kommunikation geschlossen werden und müssen nicht durch potentiell falsche Annahmen ausgeglichen werden.
Es wird von vornherein als Team agiert und nicht in Parteien, was nur förderlich ist für die gesamte folgende Projektkommunikation ist
Änderungen am Scope müssen nicht mehr diskutiert werden. Im besten Fall ist es beiden klar, da gemeinsam geschätzt wurde. Im schlimmsten Fall muss sich die Seite, die von der Scope-Änderung negativ getroffen wird, der Verantwortung stellen, in der Initialschätzung nicht ausreichend die andere Seite informiert zu haben.
Sowohl Kunde als auch Agentur bekommen ein realistisches Gefühl für die Projektgröße (sofern zu diesem Zeitpunkt überhaupt möglich).
Bonus: Mit dieser Methodik können auch eher unerfahrenere Projektmitglieder sehr leicht an eine solche Aufgabe heran geführt werden.
Ich hoffe, andere sind mit dieser Methodik genauso erfolgreich wie ich bisher. Es darf gerne ausprobiert werden und ich würde mich über Feedback freuen 🙂
Links
Planning Poker: https://t3n.de/news/scrum-planning-poker-1138385/